Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat heute den Vorsitzenden der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Herbert Kickl, mit der Bildung einer Regierung beauftragt, nachdem die Koalitionsgespräche zwischen der Volkspartei (ÖVP) und den Sozialdemokraten (SPÖ) gescheitert sind. Dies teilte Van der Bellen nach einem Treffen mit dem Chef der Freiheitlichen Partei Österreichs mit:
Guten Tag, meine Damen und Herren.
Vielen Dank, dass Sie sich wieder einmal die Zeit und das Interesse an unserer Demokratie genommen haben.
Eine der wichtigsten verfassungsrechtlichen Aufgaben des österreichischen Bundespräsidenten ist es, dafür zu sorgen, dass unser Land eine funktionierende Bundesregierung hat.
Die Stärke dieser Regierung muss eine Voraussetzung für ihren Erfolg sein. Sie braucht daher eine verlässliche Mehrheit von mehr als 50 Prozent der Sitze im Nationalrat.
Wie kann eine solche Mehrheit erreicht werden?
Es ist eine meiner Aufgaben, das herauszufinden. Was die Zusammensetzung dieser Mehrheit betrifft, so mag ich bestimmte Wünsche und Vorstellungen haben. Aber der Respekt vor der Stimme der Wählerinnen und Wähler verlangt, dass der Bundespräsident die Mehrheit, die er im Nationalrat vorfindet oder nicht, respektiert.
Das ist der beruhigend klare Kern unserer Demokratie. Er ist in der österreichischen Bundesverfassung verankert.
Meine Damen und Herren!
Sie haben selbst gesehen, welche Möglichkeiten sich nach den Wahlen im September eröffnet haben und welche nicht.
Angesichts des Wahlergebnisses werden zwei der drei großen Parteien zusammenarbeiten müssen, um eine Mehrheit im Nationalrat zu erreichen. Eine Zusammenarbeit der ÖVP mit der SPÖ und der FPÖ unter Herbert Kickl wurde jedoch von den damals Verantwortlichen kategorisch ausgeschlossen. Karl Nehammer und Andreas Babler beharrten auch nach weiteren von mir gewünschten Gesprächen darauf, dass sie keine Koalition mit der FPÖ unter Herbert Kickl eingehen würden.
Karl Nehammer hat dann versucht, eine Dreierkoalition mit der SPÖ und den Neos zu bilden. Alle drei Parteivorsitzenden haben in Gesprächen mit mir den klaren Willen artikuliert, gemeinsame Ergebnisse und ein tragfähiges Regierungsprogramm zu erreichen.
Diese Verhandlungen scheiterten jedoch.
Herr Nehammer ist zurückgetreten und hat das Mandat zur Regierungsbildung zurückgegeben. Und wie wir alle am Wochenende gesehen haben, hat die ÖVP ihr kategorisches "Nein" zu der von Herrn Kickl geführten Koalition aufgegeben.
Der neu ernannte ÖVP-Chef Christian Stocker verkündete gestern öffentlich, dass die ÖVP nun zu Regierungsverhandlungen mit der FPÖ bereit sei.
Dies ist eine neue Situation.
Es ist aber nach wie vor meine verfassungsrechtliche Pflicht, die Möglichkeit einer Regierung mit einer Mehrheit von über 50 Prozent im Nationalrat auszuloten. Deshalb habe ich heute FPÖ-Chef Herbert Kickl in die Hofburg eingeladen, um mit ihm die neue Situation zu besprechen.
Wir haben verschiedene Themen und Optionen angesprochen und diskutiert. Auch im Hinblick auf die aktuelle Situation, in der sich Österreich befindet:
* Das wirtschaftliche Umfeld ist schwierig.
* Österreich befindet sich in einer langfristigen Rezession.
* Die Arbeitslosigkeit steigt.
* Unser Staatshaushalt muss saniert werden. Nicht alle Maßnahmen werden populär sein, aber sie müssen umgesetzt werden.
* Und vergessen wir nicht die geopolitische Bedrohung, der wir ausgesetzt sind, insbesondere durch den russischen Angriffskrieg.
* Konstruktive Stärkung der europäischen Zusammenarbeit innerhalb der Union, auch im Interesse der österreichischen Industrie und Exportwirtschaft.
* Und die Medienfreiheit in Österreich.
Herr Kickl hat das Vertrauen, hier in den Regierungsverhandlungen tragfähige Lösungen zu finden - und er ist dieser Verantwortung gewachsen. Ich habe ihn ausdrücklich darum gebeten, dies zu tun.
Ich habe ihn daher beauftragt, Verhandlungen mit der ÖVP über die Bildung einer Bundesregierung aufzunehmen.
Herbert Kickl wird mich über den Fortgang der Gespräche auf dem Laufenden halten.
Meine Damen und Herren!
Ich habe diesen Schritt nicht auf die leichte Schulter genommen.
Ich werde weiterhin dafür sorgen, dass die Grundsätze und Regeln unserer Verfassung gebührend beachtet und respektiert werden.
Und wie immer werde ich Sie auf dem Laufenden halten, wenn sich etwas Neues ergibt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Bundespräsident/ gnews - RoZ
FOTO: HBF/Peter Lechner